„Und dann nimmt sich einfach jede:r das, womit sie meint, den größten Beitrag leisten zu können – und da sich das verändert, bilden wir das dann immer auf einer Art Rollenboard ab. Wenn eine Rolle nicht besetzt ist, hängen wir sie zum „?“ und wenn jemand das wichtig findet, nimmt sie sie sich eben.“
Alle nickten. Es klang für sie einleuchtend und ich malte fröhlich am Flipchart vor mich hin. Und doch wusste ich, dass das Konzept von „Rolle“ unglaublich schwer zu erklären war und es eine Weile dauern würde, bis wir dasselbe darunter verstanden. Ich selbst hatte das erste Mal von Rollen im Buch Reinventing Organizations gelesen, zurückgeführt auf die Holakratie. Als wir in meinem damaligen Team beschlossen hatten, mit Rollen zu arbeiten, klang das auch für uns ganz leicht. Erst hatten wir eine Liste von Produkten gemacht, doch da wurde schnell klar, dass wir an den Produkten ja in der Regel gemeinsam arbeiteten und Rollen individuell waren. Eine Rolle kann immer nur ein Mensch haben, das ist eins der Geheimnisse ihrer Kraft. Also hatten wir angefangen alles aufzuschreiben, was wir so tun und dabei festgestellt, dass auch das keine Rollen waren, das waren zu viele. Wir saßen auf dem Boden mit 3 großen Flipchartblättern – und verstanden eigentlich gar nichts mehr. Klar war nur, über die Aufgaben konnten wir den Zugang auch nicht finden. Denn eine zweite Superkraft des Rollenmodells ist das Geschenk des vernetzten Überblicks. Damals habe ich dann versucht, die holakratische Rollenbeschreibung besser zu verstehen und schließlich aufgegeben. Wir würden das mit den Rollen schon irgendwie selbst knacken, angepasst an ein kleines, sinngeleitetes Team. Im Laufe der Monate haben wir verstanden, dass sich Rollen auf einem Spektrum befinden. Sie sind kleinteiliger als Produkte oder Bereiche, denn in jedem Produkt und Bereich haben verschiedene Menschen Rollen. Sie befinden sich aber auch auf einer Ebene über den Aufgaben, denn unter jeder Rolle verbergen sich eine große Anzahl von Aufgaben. Rollen bleiben über die Zeit bestehen, selbst wenn sich die Menschen verändern, die sie übernehmen.
Auch wir hatten einige Anfangsschwierigkeiten und 100% klar sind wir dazu immer noch nicht, aber auf einem sehr guten Weg. Mit der Übernahme einer Rolle übernehme ich die vollständige Verantwortung dafür, dass etwas so gut wie möglich getan wird. Das bedeutet nicht, dass ich alles selber tun muss, sicher helfen mir andere Teammitglieder gerne dabei. Aber wenn nicht, bleibt die Verantwortung trotzdem bei mir. Man könnte sagen, dass ich als Rolleninhaber:in Chef:in bin für genau diesen Bereich.
Selbstorganisation arbeitet damit nicht ohne Leitung, sondern mit verteilter Leitung. Deshalb ist es wichtig, dass ich mir diese Rolle auch zutraue und ich sie genauso zuschneide, dass es mir damit gut geht.
Wir hatten beispielsweise gerade den Fall, dass Anne die Rolle Kampagne hatte und je intensiver sie sich damit befasst hat, je mehr wurde ihr klar, dass sie das leisten kann, ihr noch zu viel Knowhow fehlt. Sie hat also die Rolle zunächst zum „?“ gehängt, damit alle wissen, dass hierfür gerade niemand die Verantwortung trägt. Dann hat sie nochmal genauer überlegt und festgestellt, dass sie sich einen Teilbereich, nämlich den Aufruf, sich bei uns als Oberlausitzer New Worker:in zu melden, gut verantworten kann. Nun hat der Rest der Kampagne niemanden, der es verantwortet, doch das bedeutet einfach nur, dass das auch im Moment nicht so wichtig ist. Irgendwann wird sich jemand wieder einen Teilbereich nehmen oder Anne lernt so viel, dass sie ihre Rolle nach und nach vergrößert. Am Anfang war eine Irritation, dass Rollen einsame Gegenden sind, dass wir dann alles selber machen müssen und keine Hilfe erhalten. Das Gegenteil ist der Fall. Rollen beschreiben nur, wer die Verantwortung dafür hat, dass wir in dem Bereich gut zusammenarbeiten. Auf Wunsch der Rolleninhaber:in helfen wir uns natürlich gegenseitig aus, mit der Übernahme von Verantwortung oder wenn wir eingeladen werden, zu beraten oder als Gruppe zu denken. Klar ist jedoch: wer die Rolle hat, entscheidet. Sie muss sich zwar die Beratung von allen einholen, die davon betroffen sind und sich ggfs. Expertise hinzuziehen, wenn die eigene nicht reicht, doch die Entscheidung wird am Schluss von einer Person getroffen. Genauso wie die Übernahme einer Rolle eine individuelle Entscheidung ist und keine Absprache im Team. Sicher muss ich mich von denen beraten lassen, deren Rollen an meine angrenzen, um zu verstehen, was ich entscheide. Doch ob ich eine Rolle übernehme oder eine abgebe, liegt nur bei mir. Und wenn ich unbedingt im Zuständigkeitsbereich einer anderen Person mitspielen will, gehe ich eben ins Gespräch und wir teilen die Rolle zwischen uns auf, wieder ganz transparent, wer dann welchen Teil verantwortet.
Für manche Menschen klingt unser Rollenmodell fast beliebig. „Ihr macht also nur, worauf Ihr Lust habt? Das kann doch nichts werden.“ Doch das stimmt nicht. Wir entscheiden unsere Rollenverteilung nicht nach Lust.
Die Regel ist ganz einfach. Ich schätze ein, was die Working Evolutions gerade am meisten braucht und wie ich mit meinem Können und meinem Potenzial den besten Beitrag leisten kann. Die Richtung gibt uns unser Meaning, doch wo für mich der beste Platz ist, kann eben am Schluss nur ich wirklich entscheiden.
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