Wenn wir von unserer Arbeitsweise und unserem Tun erzählen, dann zufrieden lächelnd, neugierig auf die Zukunft und selbstsicher. Unsere Arbeit gibt uns enorme Freiheiten, Räume zur Selbstwirksamkeit und -verwirklichung und die Möglichkeit, uns flexibel an dem auszurichten, was um und in uns gerade passiert.
Wenn man durch unsere oder New Work Kanäle von Organisationen stöbert, wird alles sehr positivistisch dargestellt. Natürlich mit Anstrengungen im Prozess verbunden, aber immer mit Happy End. Zum größten Teil empfinde ich das, was wir tun und wie wir es tun, als sehr befreiend, wirksam und positiv, trotzdem möchte ich euch nach drei Jahren radikaler Selbstorganisation von den negativen Seiten erzählen, die wir und ich erfahren (haben).
Viele denken, ich arbeite gar nicht
Wenn ich mich zu einem Treffen verabrede, und Leute fragen, wann ich Zeit habe, sage ich: immer. Weil wir keine festen Arbeitszeiten haben, kann jede:r von uns arbeiten, wann, wo und in welchem Tempo sie oder er will. Keine:r von uns arbeitet mehr als vier Stunden für die Working Evolutions. Das macht für meine Freund:innen und meine Familie oft den Eindruck, jede:r mache bei uns, was sie will - nach Lust und Laune und ohne Zwang, die Arbeit ernst zu nehmen. Wenn ich tagsüber surfen gehe und bis spät abends arbeite, zählt das für die meisten als freier Tag. Als ich in einem Blog davon erzählte, wir arbeiten ohne Chef:in und ein paar Fotos von unserem bunten Co-Working-Space poste, fragt mich mein Onkel, ob ich Hilfe brauchte und nicht in die "falschen Kreise" geraten wäre. Dass Arbeit nicht nur mit Zwang und Hierarchie funktioniert, ist für die meisten noch unvorstellbar und gehört eher zu den ´jungen Hippies´ und kurzlebigen Start-ups. Die Studien von Reinventing Organizations (auch in Deutsch verfügbar) zeigen, wie Selbstorganisation auch im großen Stil funktionieren kann.
Ständig neuer Input
Vom Anfang an ist Lernen ein täglicher Bestandteil unserer Arbeit, auf persönlicher, organisationaler und Teamebene. Wir müssen lernen, uns ständig am Markt orientieren zu können, neue Fähigkeiten ausbauen, um unsere Rollen zu erfüllen, lernen, gute Entscheidungen zu treffen, empathisch zu sein, uns in uns und in andere reinzufühlen, zuzuhören, uns zu digitalisieren, Prioritäten zu setzen, unsere Kapazitäten zu kennen und nicht überzustrapazieren und genau auszuwählen, was die Organisation gerade braucht. Ich habe in drei Jahren mehr über mich selbst gelernt und meine Fähigkeiten ausgebaut, als in 10 Jahren vorheriger Arbeit in diversen Positionen und Organisationen. Dieser ständig nötige Input ist anstrengend. Ich befinde mich regelmäßig in der Lernzone, muss unglaublich aufmerksam sein und Informationen beständig sortieren und kombinieren. Unsere Gehirne arbeiten oft auf Hochtouren und es gibt selten stupides, zurückgelehntes Abarbeiten. Ich bin gedanklich nie ganz abgekoppelt, auch wenn ich den Laptop zuklappe.
Allein Entscheiden
In unseren Rollen treffen wir nach einer Beratung unserer Kolleg:innen Entscheidungen allein. Sind sie auch noch so schwierig, wir müssen sie ganz allein treffen. Mich überfordert das manchmal, da ich Angst vor Fehlentscheidungen habe oder nicht die umfassende Expertise besitze, auch nach eingehender Beratung. Manchmal wünsche ich mir eine Führungsperson, die mir Entscheidungen abnimmt, die kleinen und großen, auch wenn unsere Entscheidungen mit der Zeit immer besser werden. Wir entscheiden jede:r für sich über unsere Arbeitszeit, Rollen, Aufgaben, Produktideen - eigentlich über alles, und das verlangt mir immer noch viel Kopfzerbrechen und Umgang mit Unsicherheit ab.
Kein einfacher Einstieg für neue Mitarbeiter:innen
Wenn wir neue Menschen bei uns aufnehmen, ist es unglaublich schwierig für sie, einzusteigen. Neben den passenden Sozialkompetenzen benötigen sie den Mut, von Anfang an ohne Führung zu arbeiten, eigene Rollen zu besetzen und Entscheidungen zu treffen. Sie arbeiten ebenso remote, müssen sich digital gut orientieren und von Beginn an selbstorganisiert und eigenverantwortlich arbeiten. Natürlich begleiten wir sie, so gut wir eben können. Trotzdem war es für alle ein teilweise orientierungsloser und frustrierender Prozess, um den man nicht herum kommt und bei dem die Ergebnisse ganz oft erst im Innen passieren anstatt außen sichtbar, denn Selbstorganisation verlangt gleichermaßen innerliche und äußerliche Arbeit.
Goodbye Comfort Zone
Wir befinden uns oft in der Lernzone, selten auch in der Panikzone. Jeder Tag beinhaltet etwas Neues oder Unbekanntes und das Arbeiten in ein Morgen hinein, welches wir noch gar nicht kennen und auf das wir immer flexibel reagieren müssen. Der Arbeitsalltag ist herausfordernd, auf den unterschiedlichsten Ebenen. Manchmal ist es für mich auf persönlicher Ebene mehr herausfordernd, manchmal auf Teamebene und manchmal bei Produkten oder Kund:innen. Ebenso merke ich zeitweise, wie ich in der Panikzone lande, weil mich ein Konflikt belastet oder mich die Informations- und Arbeitslast überfordert. Der Erwartungsdruck ist groß und wir können es uns nicht lange leisten, in der Komfortzone zu verweilen. Sich dabei selbst zu schützen, verlangt ein großes Maß an Achtsamkeit und Konzentration.
Remote arbeiten macht einsam
Wir haben kein Büro und keine Meetings, wir sehen uns nur einmal im Monat regelmäßig zum Teamtag, für mich aufgrund der Distanz digital. Wir sind bis Indonesien verstreut und persönliche Treffen sind rar oder teilweise gar nicht möglich. Wenn wir arbeiten, dann immer allein, außer wir rufen uns an, um uns zu beraten oder auszutauschen. Das macht ganz oft ein bisschen einsam, denn die Gespräche am Kaffeeautomaten fallen weg oder die Mittagspausen gemeinsam in der Sonne. Wir haben verschiedene Methoden, unsere Verbundenheit zu pflegen, trotzdem spüren manche von uns im Team die Abwesenheit der Kolleg:innen doch hin und wieder sehr.
New Work Ansätze und Selbstorganisation sind Bewegungen hin zu gesunder, menschlicher und sinnstiftender Arbeit, trotzdem haben auch diese Methoden ihre Kehrseite, die sicher jede:r unterschiedlich stark fühlt. Wichtig ist, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, um die Arbeit in Zukunft nach enger an unseren Bedürfnissen auszurichten und ein echtes Bild darüber zu vermitteln, was Selbstorganisation bedeutet.
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