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  • AutorenbildAnne

Arbeiten mit Abenteuern

Seit Juni trennen mein Team und mich rund 11.000 Kilometer und sieben Stunden Zeitverschiebung. Ich befinde mich auf einer Insel in Indonesien, die Worte meiner Kollegin Monia bei unserem Abschied noch in den Ohren: „Wenn jemand remote kann, dann wir!?"



Nach genau sechs Monaten ist es Zeit für ein Resümee, wie sich digitales Arbeiten anfühlt, wenn man sehr weit weg ist.

Zum Arbeiten nutze ich ausschließlich meinen Laptop und mein Smartphone, ich kann meinen Arbeitsplatz also überall aufbauen, solange es Internet gibt. Ich gehe nach dem Frühstück in lokale Cafés, bestelle mir einen Latte Macchiato und sitze neben vielen anderen digitalen Nomad:innen mit ihren vielen Latte Macchiatos. Cool, dachte ich mir anfangs, jetzt bin ich eine von ihnen. Da jede:r von ihnen hoch konzentriert am Laptop sitzt, mache ich das auch - das Arbeiten und Konzentrieren fällt leicht. Ich schlafe meistens bis 8 Uhr, denn durch die Zeitverschiebung von sieben Stunden verschiebt sich auch mein Tagesablauf: wenn meine Kolleg:innen so langsam aufwachen, ist es bei mir Nachmittag. In den meisten Meetings ist es bei mir schon 19 oder 20 Uhr. Der erste digitale Teamtag endete für mich, dass ich um Mitternacht vor dem Laptop eingeschlafen bin. Niemand war mir böse, ich stand als Laptop die ganze Zeit mit im Meeting, trotzdem ärgerte ich mich selbst darüber, dass ich zum ersten Mal nicht durchgehalten habe.


Mati Lampu, wörtlich: Lampe tot, bedeutet in Bahasa Indonesia Stromausfall, und das passiert so ungefähr alle drei Tage für ein paar Stunden. Zum ersten Mal passiert somit auch, dass ich nicht pünktlich oder gar nicht zu Meetings erscheine und mich teilweise noch nicht mal abmelden kann. Denken meine Kolleg:innen, ich liege lieber am Strand, statt am Zoom-Meeting teilzunehmen? Schuldgefühle wegen ungewollter Unzuverlässigkeit machen sich breit. Ich nehme daher an mehr Meetings teil, als ich müsste, um zu zeigen, dass ich trotz Mati Lampu engagiert bin.


Die Verbundenheit leidet trotz der Entfernung aus meiner Sicht nicht - ich habe noch viel mehr das Bedürfnis, öfter mit meinem Team zu kommunizieren und es gibt jetzt viel mehr aus unseren unterschiedlichen Welten zu erzählen. Was wirklich fehlt, aber nicht so neu ist, seit Corona: die körperliche Nähe. Einfach mal neben jemanden zu sitzen und zu brainstormen. Den weichen Pullover des anderen am Arm zu spüren. Der oder dem anderen eine Tasse Kakao in die Hand zu drücken. Gemeinsam an Teamtagen zu frühstücken und danach über den Hof zu schlendern und sich über die Hühner amüsieren.


Wenn wir Zoom-Meeting haben, ist meist das Erste, was ich höre: wow, du bist so braun - ist das eine Kokosnuss, die du da trinkst? Natürlich ist mein Leben hier wunderbar. Viel Sonne, frisches Obst und Gemüse, viel draußen sein, surfen lernen und vieles mehr. Aber auch als grundlegend glücklicher Mensch habe ich hier meine Ängste und Sorgen. Leute kommen und gehen hier ständig – Freundschaften kann ich hier kaum aufbauen und mir fällt es schwer, meine Freundschaften in Deutschland über so lange Distanz zu pflegen. So bleibt das meiste, was mich persönlich bewegt, unausgesprochen bei mir. Neben all den netten Menschen hier um mich rum, bleibt die meiste Kommunikation oberflächlich (über das Surfen, das Wetter, oder die nächste Party) und ich vermisse zunehmend tiefe, ehrliche und intellektuelle Gespräche.


Ich lerne hier eine neue Sprache, eine neue Kultur und viele neue Menschen aus den unterschiedlichsten Hintergründen kennen. Fast jeden Tag probiere ich etwas Neues aus, sehe etwas Unbekanntes oder erlebe ein kleines Abenteuer – das erweitert meinen Horizont enorm und lässt mich unsere Arbeit auch anders betrachten. Die sichtbarsten Probleme für die Menschen, die hier leben, sind hier ein rudimentäres Gesundheitssystem, zunehmende Naturgewalten wie Überschwemmungen und Vulkanausbrüche, Korruption und Umweltverschmutzung. Die Welt, für die ich arbeite, befindet sich am anderen Ende dieses Spektrums, in totaler Abstinenz von all dem, und ich stelle mir die Sinnfrage noch viel mehr als zuvor. Was ich wirklich gut kann, ist helfen und Probleme lösen. Deshalb kann ich beides vereinbaren – Organisationen helfen, sich auf den Weg zu wertebasierten Arbeitsweisen zu machen. Und hier vor Ort helfen, wo immer ich kann. Zurzeit arbeite ich bei der Organisation Lombok Plastic Free, die sich vor ein paar Jahren aus einer Gruppe Locals gebildet und für den Kampf gegen Einweg-Plastik verschrieben hat. Ich bin überzeugt, dass meine Arbeit großen Sinn hat, finde aber zunehmend Produkte, Themen und Content aus ´meiner´ Welt sehr sinnlos.


In Deutschland schaue ich meistens einmal am Tag in den Kalender. Dienstag, 10:30Uhr. Morgen ein Meeting, nächste Woche kommt der Elektriker, in drei Monaten ist Ostern. Hier gibt es, neben der fehlenden Zeitform für gestern und morgen, auch keine Uhren, die irgendwo hängen. Man trifft sich eher zufällig als geplant. Alles kommt, wie es kommt. Die Menschen hier leben so sehr im Jetzt, dass die Zeit viel langsamer tickt. Anstatt immer in die Zukunft und auf das nächste Event zu schauen, schaut man eben, wer gerade da ist, wie das Wetter jetzt über einem ist, und ob viel oder wenig Verkehr herrscht und was wirklich um einen herum passiert. Man schaut aufeinander und nach einander. Dinge Schritt für Schritt zu erledigen und zu schauen, was JETZT wichtig ist und das dann mit ruhiger Qualität anstatt mit Hektik zu erledigen, habe ich tief verankert. Ich denke nicht mehr in Monaten oder Wochen oder Tagen, sondern eher in Stunden. Das hilft, mich zu fokussieren und im Jetzt richtig für die Zukunft zu entscheiden. Ich lerne hier das Prinzip Sense and Response, das bedeutet zu entscheiden, was jetzt gerade in dieser Situation Sinn ergibt, anstatt Pläne und Strategien zu schmieden. (Dabei leitet mich unser Meaning, wir steuern also nicht ziellos in die Zukunft.)


Wenn ich arbeite, dann zu hundert Prozent online, immer mit Blick in den Laptop oder das Smartphone. Die Menschen hier schauen kein TV, lesen keine Zeitung und hören kein Radio. Alles Informative und mediale passiert zu 90 % über social media - oder man bekommt es einfach nicht mit. Das mediale Detox tut unglaublich gut. Ich habe kein Facebook, Instagram checke ich alle paar Tage und meistens nur aus langer Weile und den Rest der Zeit verbringe ich abseits von allen Medien. Surfen, Kochen, Spazierengehen, in der Hängematte liegen, zusammen Gitarre spielen. Die Welt ist bisher noch nicht untergegangen, auch wenn ich fast gar nichts mehr von ihr höre.

Zwei meiner Kolleg:innen sind chronisch krank und im Moment nicht oder eingeschränkt arbeitsfähig. Ich bin in Indonesien, ein Kollege in Berlin, mit allen Händen voll zu tun in einer anderen Firma, die zwei anderen Kollegen beschäftigt mit einem internen Projekt, einer davon jongliert mit zwei Jobs. Einer schläft gerne lang, die andere sehr lang, ein anderes Teammitglied ist Frühaufsteherin. Die einen lieben, die anderen ringen mit kontinuierlicher Kommunikation. Die einen arbeiten eher analytisch, planerisch, die anderen eher nach dem Trial-and-Error Prinzip. Die einen haben feste Strukturen, bei mir ist jeder Tag anders getimed. Ich frage mich manchmal, wie viele Arbeits- und Lebensweisen eine bzw. unsere Organisation tragen kann. Im Moment kann die Working Evolutions uns alle gerade so tragen, um jede:r von uns das Arbeitsleben zu ermöglichen, welches wir brauchen und wollen. Das fordert aber von jede:r einzelnen die Leidenschaft, unsere Werte Verantwortung, Vertrauen und Verbundenheit zu leben, egal in welcher Lebenslage wir uns befinden.


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