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  • AutorenbildMonia

Jede Arbeit ist politisch

Irgendwie dachte ich immer, dass es eben Menschen gibt wie mich, die einen wahnsinnigen Drang haben, ihre Arbeitszeit zur Mitgestaltung der Welt zu nutzen und Menschen, denen das mit dem Sinn eben nicht so wichtig ist. Es gibt Tage, an denen ich denke, dass dieser Drang von mir ja wahrscheinlich auch mehr Ego ist und ich ja eh nichts bewege und andere Tage, an denen ich mich sehr wirksam fühle. Aber nie habe ich die Menschen, die Arbeitszeit und Freizeit gerne trennen und einfach Zeit gegen Geld dealen, als primäre Gesellschaftsgestalter:innen betrachtet. Bis ich die Doku "Creating Freedom" gesehen habe und mich zwischen all dem, worüber ich schon öfter nachgedacht hatte, ein Satz traf: "Arbeiten ist hoch politisch".


Für die meisten Menschen ist die Arbeitszeit der höchste Anteil ihrer wachen Lebenszeit. Wir investieren dort mehr Zeit, Energie, gedankliche und emotionale Kraft als in den anderen Bereichen unseres Lebens. Ein großer Teil dessen, was wir in unserem Leben zu geben haben, geben wir hier. Sie ist demnach quasi unser Lebenswerk, unsere Hinterlassenschaft.

Und die Entscheidung, was wir tun, wie und für wen gestaltet aktiv die Gesellschaft - denn jede Entscheidung, die wir hier treffen und mit unserer Lebenskraft aufladen, unterstützt ein System. Wir können entscheiden, welches.

Es gibt so etwas wie "einfach nur ein Job" nicht. Selbst eine Arbeit, die keinerlei positive oder negative Konsequenzen in der Welt hat, wäre noch immer eine Entscheidung, ein System der Selbstbeschäftigung zu unterstützen. Doch dass wir jeden Tag aufs Neue einfach nur dadurch, dass wir zu unserer ausgewählten Arbeitsstelle gehen, entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen, ist nur selten ein Thema.


Die Hauptbotschaft des Filmes ist, dass wir nicht frei sind, weil wir die gesellschaftlichen Annahmen so verinnerlicht haben, dass wir blind sind. In Bezug auf Arbeiten ist es die Blindheit, dass sie hauptsächlich dem Geld verdienen gilt und es normal ist, dass wir an unserem Arbeitsplatz weniger demokratische Rechte haben als in der Gesellschaft als Ganzes. In dem Film klingt das negativer und absichtlicher als in mir - doch das Thema mit der Systemblindheit beschäftigt mich schon sehr lange. Wir können nicht sehen, was wir gewöhnt sind. So konnte auch ich auch nicht sehen, dass die Entscheidung über meine Arbeitszeit wahrscheinlich politisch machtvoller ist als die Abgabe eines Wahlscheines.

Für mich bedeutet das, meine Arbeitszeit immer einmal wieder darauf zu untersuchen, welches System ich hier gerade unterstütze und andersrum meinen gesellschaftlichen Traum immer einmal wieder als Messlatte für meine Arbeit anzulegen.

Das Ergebnis: ich bin noch ein wenig anstrengender für meine Kolleg:innen geworden. Vor kurzem haben mich AGBs für eine Ausbildung, die wir planen, komplett aus der Bahn geworfen. Ein scheinbar winziges To-Do ist in mir so existentiell geworden, dass ich in mir an die Grenzen unserer Verfassung gestoßen bin. Wir arbeiten mit der beratenen Entscheidung, was bedeutet, dass die Rolleninhaber:in nach Beratung durch von der Entscheidung Betroffene entscheidet. Die AGBs fallen nicht in meine Rolle und so kann ich nur beraten. Normalerweise kann ich das sehr gut, beraten, loslassen und mich um meine eigenen Dinge kümmern. Doch die AGBs haben mich zwei Nächte immer wieder geweckt. Es gab echte Impulse in mir, die Organisation zu verlassen. Wegen nichts?


Es begann mit einem kleinen Copypaste der AGBs einer anderen Organisation, etwas, das ich mit allen möglichen Verträgen selber schon tausendfach gemacht habe. Das Ergebnis sieht dann eben aus, wie sowas eben aussieht: sehr kleine Schrift und eine Sprache, die wir nur marginal verstehen, von der wir aber wissen, dass sie zu 100% die Organisation schützt, die sie erstellt hat (obwohl wir das so genau ja nicht wissen, da es so viel copy paste gibt). Wir als Kund:innen haben uns an dieses "so oder gar nicht" gewöhnt, auch wenn wir das "so" gar nicht genau verstehen. Und als ich das mit dem Logo unserer Organisation sah, öffnete sich in mir ein riesiges System, an dem ich nicht teilhaben wollte, ein System, in dem die Vertragspartner:innen mit dem meisten Geld (= den besten Anwält:innen) am besten geschützt sind, in dem die Vertragspartnerin Organisation über den Vertragspartner Mensch automatisch trumpft. Spannend war auch, welche unüberlegten Annahmen dann in uns so hochploppten: "Wir müssen uns absichern!" zum Beispiel. Wogegen denn? Unseren Kund:innen, also unsere Lieblingsmenschen? "Unser Geschäftsführer haftet", war auch kurz Thema. Wofür denn? Kein Geschäftsführer haftet privat, wenn ein:e Kund:in nicht bezahlt. Ein Moment des Bewusstseins und es ließ sich abschütteln. Übrig blieb nur der Widerwille, jetzt viel Arbeit in einen fairen Vertrag investieren zu müssen. Doch wir haben ja die Wahl, was wir copy-pasten und unsere Partnerin socius, die über so etwas seit Jahrzehnten nachdenkt, hat uns erlaubt, auf ihre Überlegungen aufzubauen.


Natürlich müsste ich unsere Organisation wegen so etwas nie verlassen - eben dazu gibt es ja die beratene Entscheidung, damit wir einander unterstützen können, bestmögliche und gut durchdachte Entscheidungen zu treffen.

Und doch habe ich gemerkt, dass das politische Denken unserer Entscheidungen mich radikaler macht. Ich habe eine politische Macht in meinem Alltag entdeckt, die ich nun genauso ernst nehmen werde wie mein Wahlrecht.

Creating Freedom läuft u.a. auf Prime Video:



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